Montag, 22. März 2010

Der Balkan und die Europäische Union


Neslihan Yildiz


Seit dem endgültigen Zerfall des ehemaligen Jugoslawien liefern sich die übriggebliebenen Teilstaaten ein abwechslungsreiches Kopf an Kopf Rennen um die Gunst der Europäischen Union.

Einen Sieger hat das Rennen bereits: Die Republik Slowenien. Im Mai 2004 wird das Land als eines von zehn Beitrittsländern ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union und führt drei Jahre später den Euro ein. Anderen Balkanstaaten geht, wie es scheint, trotz vielversprechendem Start, langsam die Puste aus.

Kroatien: Seit 2004 ist die Republik Kroatien bereits Beitrittskandidat der Europäischen Union. Beitrittsverhandlungen werden seit 2005 geführt.

Bosnien und Herzegowina: Obwohl der EU-Beitritt von vielen Politikern befürwortet wird, hat die Republik Bosnien und Herzegowina noch keinen Beitrittsgesuch gestellt.

Serbien: Ende 2009 reicht die Republik Serbien nach jahrelangem hin und her ihre Bewerbung um eine EU-Mitgliedschaft offiziell ein. Solange der außereuropäische Streit um die Zugehörigkeit des Kosovo nicht beigelegt ist, wird es zu keinem baldigen Beitritt Serbiens in die EU kommen.

Montenegro: Die Republik Montenegro verkündet ihre Unabhängigkeit später als die meisten Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawien. Dennoch schafft sie es, 2006 innerhalb desselben Jahres nicht nur von der Europäischen Union als unabhängiger Staat anerkannt zu werden, sondern auch die Verhandlungen eines Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) für die Aufnahme in die EU abzuschließen. Montenegro gilt zurzeit als „Potentieller Beitrittskandidat“. Montenegrinische Staatsbürger können seit Dezember des vergangenen Jahres visumfrei in die EU einreisen.

Mazedonien: Die Republik Mazedonien ist seit 2005 Beitrittskandidat der Europäischen Union. Beitrittsverhandlungen liegen derzeit auf Eis. Griechenland stellt sich quer. Weil der Name „Mazedonien“ griechischen Ursprungs sei, beansprucht Griechenland den Namen Mazedonien für sich. Solange dieser Namenstreit nicht beigelegt ist, ist die Aufnahme Mazedoniens in die EU unwahrscheinlich.

Kosovo: 2008 erklärt das Kosovo seine Unabhängigkeit und löst sich vom Mutterland Serbien. Bisher erkennen nur 65 der 192 UN-Mitgliedstaaten Kosovos Unabhängigkeit an. Auch Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Zypern verweigern ihre Anerkennung. Für einen Beitritt ist die Zustimmung aller EU–Mitgliedstaaten notwendig. Das Kosovo ist zurzeit ein Rektorat der UNO und der EU. Die Republik Kosovo wird dennoch zu den „potentiellen Kandidatenländern“ der Europäischen Union gezählt.

Die Republik Kosovo liegt im Rennen um die Gunst der Europäischen Union ganz klar ganz hinten. Spannungen außerhalb der Europäischen Union erschweren den Beitritt zusätzlich. Die Republik Serbien weigert sich die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen und besteht auf einen EU-Beitritt gemeinsam mit dem Kosovo als eine zu Serbien gehörige Provinz. Andererseits gibt es Stimmen innerhalb des Landes, die auf einen alleinigen EU-Beitritt hoffen, um im Nachhinein den Beitritt des Kosovo zu verhindern. Die Europäische Union verlangt von beiden Staaten diesen Streit zu schlichten. Laut weiteren Forderungen der EU muss die Republik Kosovo, ähnlich wie die Türkei, ihre demokratischen Strukturen erweitern. Besonders die Parteienlandschaft bedarf mehr Stabilität. Korruption, Schattenwirtschaft, ethnische Spannungen und wirtschaftliche Probleme müssen behoben werden.

Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen der EU

Wenn ein Staat die Mitgliedschaft der Europäischen Union anstrebt, muss dieser zunächst ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) mit der EU abschließen. Um mehr Stabilität in dem jeweiligen Land zu schaffen, wird durch das SAA die Wirtschaft des jeweiligen Landes an die Europäische Union gebunden. Zur Schaffung politischer Stabilität werden in einem SAA unterschiedliche Anforderungen an die jeweiligen Bewerbungsländer gestellt. Die Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawien garantieren in ihren Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen unter anderem die vollständige Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, die seit 1991 in den Jugoslawienkriegen begangen wurden.


Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien

Das International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY) wird 1993 durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrats geschaffen und hat seinen Sitz in Den Haag. Das Tribunal ist zuständig für die Verfolgung und Verurteilung von Verbrechen, die seit 1991 in den Jugoslawienkriegen begangen wurden. Die Befugnisse der Strafverfolgung des ICTY werden unterteilt wie folgt in vier Kategorien: schwere Verletzungen der Genfer Konventionen, Verstöße gegen die Gesetzte des Krieges (ius ad bellum) Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das ICTY umfasst ausschließlich natürliche Personen (keine Organisationen/Regierungen).

1994 nimmt das Tribunal seine Tätigkeit voll auf. 161 richterlich bestätigte Anklageschriften gegen Verdächtigte werden seither veröffentlicht. In den rechtlichen Urteilen kommt es bislang zu 51 Schuld- und 5 Freisprüchen. In 36 der Fälle wird die Anklage zurückgezogen. Drei der Angeklagten sind noch auf der Flucht.


Der Fall Slobodan Milosevic

1990 wird Milosevic Präsident Serbiens. 1997 ist er Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien. Milosevic ist ein jugoslawisch-serbischer Politiker, Vorsitzender im Bund der Kommunisten Jugoslawiens und der 1990 gegründeten Nachfolgepartei Sozialistische Partei Serbien.

2002 wird zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte an einem internationalen Strafgerichtshof Anklage gegen ein noch amtierendes Staatsoberhaupt erhoben.

Das Internationale Gerichtstribunal in Den Haag wirft Slobodan Milosevic insgesamt 66 Klagepunkte in drei Anklageschriften vor. Er muss sich vor Gericht für Massenvertreibungen, Deportationen, Angriffe und Morde an Zivilisten im Kosovo, in Bosnien und Kroatien während der Jugoslawienkriege seit 1991 verantworten. In der Anklageschrift des Internationalen Gerichtshof heißt es unter anderem:

„Slobodan Milosevic is indicted for (…) murder of hundreds of Kosovo Albanian civilians – men, woman and children. (…) The sexual assault against Kosovo Albanians, in particular women. (…) The deportation or forcible transfer of at least 170000 Croat and other non-Serb civilians (…).”

Milosevic erkennt den Internationalen Gerichtshof von Anfang an nicht als legitim an und darf sich selbst verteidigen. Die Gerichtsverhandlungen werden häufig unterbrochen. Entweder weil Milosevic erst gar nicht zu den Prozessterminen erscheint, oder, weil er das Gericht zeitweilig als geeigneten Ort für politische (Verteidigungs-) Reden betrachtet. Das Gerichtsverfahren verläuft schleppend und aufwendig. Über 400 Zeugen werden vernommen. 200 Videos und noch mehr Akten und Dokumente werden als Beweismaterial gesichert.

2006 ist die Beweisaufnahme weitestgehend abgeschlossen. Im selben Jahr soll ein Urteil gesprochen werden. Am 11. März 2006 wird Slobodan Milosevic jedoch tot in seiner Gefängniszelle am Internationalen Gerichtshof in Den Haag aufgefunden. Das Verfahren wird nach viereinhalb jähriger Prozessdauer ohne Urteil und Abschlussbericht eingestellt.