Mittwoch, 18. August 2010

„Wie bürgernah / bürgerfern ist Europa?“

Mit Gastredner Hermann Kuhn


Von Panajotis Gavrilis und Larissa Hoppe


Unser Gast in der Gesprächsrunde war Hermann Kuhn. Er ist Abgeordneter für die Grünen in der Bremer Bürgerschaft und Mitglied im Ausschuss „Europa der Regionen“. Außerdem ist er ehrenamtlicher Landesvorsitzender der Europa Union.
Nach seinem Abitur belegte er sein Studium und absolvierte sein Staatsexamen für Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Anschließend folgte ein Referendariat in Bremen.
Von 1974 bis 1977 war er Lehrer in Brinkum. Wegen seiner Aktivität beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW), von 1973 bis 1982, bekam er aber ein Berufsverbot. Ab 1980 war er bei der Bremer Tageszeitung AG, von 1984 als Mitglied des Betriebsrates. 1989 promovierte Hermann Kuhn an der Bremer Universität.
Bereits von 1991 bis 2003 war er Abgeordneter in der Bremer Bürgerschaft für die Grünen; ab 1995 als einer der Vizepräsidenten. Nach einer Pause wurde er 2007 als Abgeordneter wiedergewählt.


Grundsatzfragen des Gesprächs waren: Wie ist Europa bei den Bremer BürgerInnen angekommen? Wie groß sind die Anstrengungen, auf der lokalen Ebene Europa etwas näher zu bringen? Was hat die EU bisher im Positiven erreicht, wie sieht ihre Zukunft aus und wo liegen ihre Grenzen?
Aus gegebenem Anlass wurde auch die Griechenland-Krise thematisiert.
Doch zu Beginn: Was hat Hermann Kuhn dazu gebracht, sich so sehr mit dem Thema „Europa“ auseinander- und auch dafür einzusetzen?
Vor allem die deutsche Geschichte mit ihren Kriegen und mit dem Fall der Mauer 1989 waren Auslöser für die bewusste Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Völkern. Europa ist mehr als nur ein rentables Instrument für den Binnenmarkt. Europa bedeutet für Hermann Kuhn in erster Linie kultureller Austausch, mehr Kommunikation und Verständnis zwischen den Mitgliedsstaaten und so eine langfristige Friedenssicherung.

Hermann Kuhn sagt heute: „Wir sind in Europa.“ Trotz einer sehr geringen Wahlbeteiligung ist er sich sicher, dass Europa bei den BürgerInnen ein Thema ist und auch angenommen wird. Schließlich haben mehr BundesbürgerInnen Vertrauen in das Europäische Parlament als in den Deutschen Bundestag. Nichts desto trotz. Das Europäische Parlament, Brüssel als Herzstück Europas, liegt weit weg.
Viele Menschen haben das Gefühl, dass ihre Stimme unter all den Meinungen wenig zählt und wenig bewegen kann. Hinzu kommen Vorwürfe, dass Europa an den Interessen der BürgerInnen vorbei entscheidet, beispielsweise bei den Agrarsubventionen für LandwirtInnen. Dem hält Hermann Kuhn entgegen, dass das Europäische Parlament grundsätzlich bemüht sei, sich an den Interessen der Bevölkerung aller 27 Mitgliedsstaaten zu orientieren. Dies würde aber nicht immer ohne langwierige Diskussionen, Kompromisse und Zeitverzögerungen gehen. Diese kollegiale Argumentationsarbeit findet er grundsätzlich aber sehr gut, denn nur so können Beschlüsse gefasst werden, die im Sinne aller, beziehungsweise der meisten sind. Auch die Machtaufteilung auf das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, die Europäische Kommission und nachkommende Ämter ist sinnvoll.
Sie verhindert einen Machtmissbrauch und die bloße Verfolgung von eigenen Interessen.
Auf lokaler Ebene erwartet Hermann Kuhn mehr Eigeninitiative von den Bürgerinnen und Bürgern. Seiner Meinung nach liegt es nicht nur bei den PolitikerInnen, Europa schmackhaft zu gestalten. Auch die BürgerInnen müssten sich über die EU zu Hause informieren wollen. Hermann Kuhn sieht sich also in der Rolle des Vermittlers. Durch sein Engagement versucht er Europa und das was passiert den Menschen verständlich zu machen, sie zu informieren und so Europa ein Stück näher zu bringen – ganz ohne falsche Euphorie. Aber dies kann aus seiner Sicht nur funktionieren, wenn BürgerInnen gewillt sind, aktiv auf das Thema zuzugehen.
Zusammenfassend lässt sich aus seiner Sicht heute sagen, dass die politische Bedeutung der Euuropäischen Union längst bei den BürgerInnen angekommen ist, nur von vielen noch nicht so stark wahrgenommen wird. Dies liegt an einer Fehleinschätzung bezüglich der Bedeutung, sowohl hinsichtlich der europäischen Beschlüsse, als auch der BürgerInnenmeinung, sowie an mangelndem Interesse und Eigeninitiative vieler.
Aus aktuellem Anlass wurde auch das Thema Griechenland und dessen Staatsbankrott aufgegriffen. Hermann Kuhn sprach sich deutlich für einen Kredit für das bankrotte Griechenland aus. Dies, um die Märkte der Eurozone zu stabilisieren, und so die Europäische Union dauerhaft zu stabilisieren und zu stärken. Diese Unterstützung müsse allerdings an unbedingt zu erfüllende Auflagen gebunden sein. Grundsätzlich sieht er eine Chance in dem Risiko Griechenland zu unterstützen. Die Europäische Union hat die Möglichkeit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und Sparziele in Zukunft konsequenter durchzusetzen.

Im positiven Sinne hat die EU die Kommunikation zwischen den Nationen gefördert. Kultureller Austausch und eine gemeinsame Entwicklung tragen zu einer starken Eurozone bei. Grenzen sind Europa nach wie vor bezüglich der Verabschiedung von allgemeingültigen Gesetzen und Beschlüssen gesetzt. So sind und bleiben manche Themen nach wie vor Ländersache, beispielsweise Bildung. Hier stellt sich die Frage, inwieweit das Europäische Parlament seine Zuständigkeiten ausbauen sollten, wobei Hermann Kuhn darauf verweist, dass nicht alles in Brüssel entschieden werden sollte, damit nationale, regionale und lokale Unterschiede weiterhin Beachtung finden.
Trotz der wirtschaftlichen Krise und der damit verbundenen sozialen Problemfelder in der Gesellschaft ist Hermann Kuhn zuversichtlich, dass Europa diese Hürde meistern wird. Krise bedeutet manchmal eben auch Chancen, für Veränderungen.
Für die EU eben die, sich den BürgerInnen Stück für Stück weiter anzunähern.

Ein europäischer Bürger, ein Europa der Bürger

Zur Europäischen Indentität

Von Necla Süre

Im Reisebüro „Gela Reisen“ hat sich eine Menschenschlange gebildet. Valeria Marinenko, eine in Litauen geborene Russin, steht auch an. „Der nächste, bitte“. Valeria Marinenko nimmt Platz. Wo soll’s denn hingehen, fragt die junge Reiseverkehrskaufrau freundlich. „Nach Moskau“ lächelt die litauische Russin. „Dann bräuchte ich noch Ihren Ausweis, den Sie zur Beantragung des Visums hier lassen müssen“, sagt die junge Dame. Valeria Marinenko kramt aus ihrer Handtasche Ausweis und Portemonnaie hervor, bezahlt ihren Flug und verlässt das Reisebüro. Drei Wochen später kann sie ihren Ausweis und das Visum abholen.
Valeria Marinenko wurde am 29.07.1970 als Kind einer russischen Familie in der Hafenstadt Klaipeda, Litauen geboren. Ihr Großvater, ein Offizier hatte sich aufgrund seines Postens zur Zeiten der Sowjetunion in Litauen niedergelassen. Klaipeda war in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen das Zentrum des Memellandes.
Seit zehn Jahren lebt die litauische Russin in Deutschland. Ihr 18-jähriger Sohn, aus ihrer geschiedenen Ehe lebt weiterhin bei der Familie seines Vaters in Litauen. Während der ersten Jahre in Deutschland hat Valeria Marinenko ihre Familie in Litauen nicht besucht. Doch seit Litauen Mitglied der Europäischen Union (EU) ist und seither besucht sie ihren Sohn regelmäßig. „Seitdem Litauen der EU beigetreten ist, sind die Grenzen gelockert worden, d.h. ich muss nicht mehr wochenlang auf das Visum warten und kann jederzeit einen Flug buchen, ohne mir weitere Umstände machen zu müssen“.
Seit dem 01.Mai.2004 ist Litauen ein Mitgliedstaat der Europäischen Union. Die EU-Erweiterung 2004 war die fünfte und bisher größte Erweiterung der EU überhaupt. Die letzte EU-Erweiterung erfolgte 2007, es traten Rumänien und Bulgarien der EU bei.
Am 9. Mai 1950 stellte der französische Außenminister Robert Schuman erstmals das Konzept vor, das zur Europäischen Union führte.
Im Zuge der europäischen Einigungsbewegung seit Ende des zweiten Weltkrieges unterzeichneten 1951 die Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Montanunion genannt.

1957 wurden mit den Römischen Verträgen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) gegründet. Ziel der EWG war die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Zudem wurden eine gemeinsame Außenhandelspolitik und eine gemeinsame Agrarpolitik beschlossen. Die Organe der drei Gemeinschaften EGKS, EWG und EURATOM wurden 1967 zur Europäischen Gemeinschaft (EG) zusammengelegt. Mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 wurde die Europäische Gemeinschaft zur Europäischen Union. Am 13. Dezember 2007 wurde der Lissaboner Vertrag in Lissabon von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten unterzeichnet und trat am 1. Dezember 2009 In Kraft.
Heute besteht die Europäische Union aus 27 Mitgliedstaaten
Einer der wichtigsten Punkte, die der Vertrag von Lissabon beinhaltet, lautet wie folgt:
„Ein Europa der Rechte und Werte, der Freiheit, Solidarität und Sicherheit, das die Werte der Europäischen Union fördert, die Charta der Grundrechte in das europäische Primärrecht einbindet, neue Instrumente der Solidarität vorsieht und die europäischen Bürger besser schützt“.
Die EU und ihre Entwicklung fußt auf der Idee ein politisches und wirtschaftliches gemeinsames Europa zu schaffen.
Es entstand aber nicht nur die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, sondern die Gemeinschaft zog eine gewachsene Vielfalt an Kulturen, Mentalitäten und Sprachen nach sich. Es soll aus den vielen verschiedenen religiösen, philosophischen, politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Strömungen eine gemeinsame europäische Identität entstehen.
Valeria Marinenko lebt heute im Bremer Stadtteil Neustadt. Hier trifft man auf eine Vielfalt an Nationalitäten, Mentalitäten, Religionen etc., die diese Gemeinschaft mit sich bringt. Die sich heute als Europäerin betrachtende 40-jährige mit litauisch-russischem Migrationshintergrund fühlt sich in Deutschland, vor allem in Bremen wohl. „Ich bin in Litauen als Russin geboren, also war ich und wurde ich dort immer als Ausländerin betrachtet und benachteiligt. Wenn ich nach Russland flog, war ich auch immer Ausländerin, wegen meines litauischen Passes. In Deutschland aber bekomme ich mit meinem litauischen Pass nicht das Gefühl, eine Ausländerin zu sein. Ich wurde weder in Litauen noch in Russland akzeptiert. Aber hier, hier gibt es viele Ausländer. Hier fühle ich mich wohl. Hier fühle ich mich und bin ich eine Europäerin“.
Valeria Marinenko fühlt sich also als europäische Bürgerin. Ein Europa der Bürger, eine Bürgerin in Europa. Neben dem Entstehen einer gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Identität, wird auch die Vielfalt an Kulturen, Mentalitäten und Sprachen akzeptiert und toleriert, auch wenn das im Einzelnen nicht immer der Fall ist.
Es darf nicht sein, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Religion auf Ausgrenzung stoßen, was der Charta der Grundrechte widersprechen würde. Die grundsätzliche Umsetzung und Ausformung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit müssen weiterhin im Zentrum der Gestaltung einer Europäischen Union stehen. Schon allein die Lockerung der Grenzen zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten zeigt ein Bild oder vermittelt den EU-Bürgern das Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Für Valeria Marinenko geht es bald in Richtung Moskau, um ihre Familie dort zu besuchen, doch da Russland kein Mitgliedsstaat ist, wird das Visum noch einige Wochen auf sich warten lassen.

Polen – Heimat und Verschmelzung zwischen West- und Osteuropa

Zur Europäischen Identität

Von Joanna Lawrynowicz

Ich bin in Polen geboren. Meine Eltern sind Ende der Achtziger Jahre nach Deutschland gekommen. Sie haben im Vergleich zu den meisten Polen, die in Deutschland leben, keine deutschen Vorfahren. Sie sind vor dem Kommunismus geflohen. Damals war ich zwei Jahre alt. Ich habe mich gut integriert, was ich zum Beispiel von meinem Vater weniger sagen kann.
Ich habe die Sprache gelernt, einen anständigen Schulabschluss gemacht und einen Beruf erlernt. Jetzt studiere ich.
Ich hatte einen polnischen Pass, da ich ja auch polnische Staatsbürgerin war. Als Kind war es egal. Doch dann fing es an, irgendwie nervig zu werden. Ich wollte mir als Jugendliche ein bisschen dazu verdienen. Bei den Arbeitgebern hieß es dann: „Ich brauche eine Arbeitserlaubnis von Ihnen“.
Ich musste ständig mit meiner Mutter zum Ausländeramt, um meine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Nach langer Zeit habe ich endlich eine unbefristete bekommen. Was auch anstrengend mit zunehmendem Alter wurde, dass ich mich nicht ausweisen konnte. Ich hatte zwar den Pass, aber keinen Personalausweis. Aber wie denn auch, schließlich bin ich ja hier gemeldet und nicht in meiner Geburtsstadt Olsztyn! Und meinen Pass mit auf Tour zu nehmen, hielt ich für leichtsinnig. Wenn ich ihn verloren hätte, wäre es erneut ein bürokratischer und zudem teurer Aufwand gewesen. In Hamburg im polnischen Konsulat hätte ich ihn beantragen müssen. Gekostet hätte mich das Prachtstück um die 200 Euro. Es gab auch Phasen, da habe ich nicht zugegeben, dass ich aus Polen komme, mein Vaterland verleugnet. Ich habe wirklich gedacht, dass es ein Nachteil sei, Ausländer zu sein.
Im jungen Erwachsenenalter entschied ich mich, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Es ging leicht, man konnte sie sich quasi kaufen. Ich glaube, es waren um die 120 Euro. Einen Einbürgerungstest oder dergleichen musste ich nicht machen.

Nun war ich eine richtige Deutsche, es war geschafft. Polen war da bereits etwa seit drei Jahren in der EU. Ich bin seit Langem wieder hingefahren. So entdeckte ich neue Dinge beim Reisen und in der alten Heimat. Kein langes Stehen an der Grenze mehr, was sich früher mit dem Reisebus schon bis zu über einer Stunde hinziehen konnte. Die fehlende Passkontrolle empfand ich als sehr angenehm. Auch meine Geburtsstadt hat sich verändert: Super- und Baumärkte, statt kleine Tante-Emma-Läden und Märkte, zierten das Bild. Statt Russisch, was meine Cousine tatsächlich früher gelernt hat, war in den polnischen Schulen Englisch endlich etabliert. Auch Deutsch ist ein beliebtes Unterrichtsfach geworden. Die Menschen sind auch mit der Zeit einfach moderner geworden. Die Landstraßen waren neu geteert und beschildert.

Ich denke schon, dass die Mitgliedschaft in der EU die Infrastruktur des Landes verbessert hat und den Einzug ausländischer Investoren attraktiv gemacht. Der Unterschied zwischen den Ländern erscheint mir nicht mehr so groß wie einst.
Doch auf der anderen Seite gibt es auch Nachteile. An der neuen Bürokratie ist der eine oder andere Pole schon gescheitert. Mein Onkel war ein erfolgreicher Manager bei einer Firma, die Agrarmaschinen und Saatgut verkaufte. Er hat versucht sich selbständig zu machen. Mit Laub und Unterholz aus den Wäldern Polens wollte er Energie gewinnen und diese verkaufen. Als Grund für sein Scheitern gab er an, dass die Vorschriften und die neue Konkurrenz ihn das Geschäft mies gemacht haben. Jetzt lebt er mit seiner Frau in England, wo sie als Zahnärztin arbeitet.
Da wo es eben Vorteile gibt, da wird es auch immer auf der anderen Seite Nachteile geben.

Die Vorteile überwiegen. Ich treffe viele junge, polnische Menschen, die sehr weltoffen sind und sich total für Europa interessieren. Eine neue Generation, die es möglich macht, Kriegsverbrechen und vergangene Konflikte zu reflektieren, aber auch zu verzeihen. Ich bin definitiv der Meinung, dass der Osten und der Westen durch die Aufnahme Polens in die EU zusammengerückt sind. Die Grenzen sind fließend. Und so ist auch die Grenze in meinem Kopf wieder fließender geworden. Ich stehe jetzt hundert prozentig dazu, woher ich komme. Und ich bin stolz auf meine Heimat. Manchmal so stolz, dass ich ab und zu darüber
Joanna Lawrynowicz

Der Europäische Sozialfonds

Ko-finanzierte Programme- Die Finanzierung ist ein Dilemma

Von Necla Süre und Joanna Lawrinowitz

Ein Sprachkurs für türkische Frauen, die eine Arbeit suchen; eine Fortbildung für Arbeitslose, die in ihrem vorherigen Beruf keine Arbeit mehr finden; der nachgeholte Hauptschulabschluss für Heranwachsende - Maßnahmen zur Qualifizierung auf dem Arbeitsmarkt. Nur wenige wissen, woher tatsächlich die Mittel für diese Berufsqualifizierungsmaßnahmen stammen.
Das Geld stammt aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF). Der Europäische Sozialfonds wurde mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 ins Leben gerufen. Seit dieser Zeit schafft er Arbeitsplätze, unterstützt die Menschen durch Ausbildung und Qualifizierung und trägt zum Abbau von Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt bei. Ziel der Europäischen Union ist es, dass alle Menschen eine berufliche Perspektive erhalten. Jeder Mitgliedstaat und jede Region entwickelt dabei im Rahmen eines Operationellen Programms eine eigene Strategie. Damit kann den Erfordernissen vor Ort am besten Rechnung getragen werden.
Nach einem Verteilungsschlüssel zahlen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ihren Beitrag in diesen Fonds ein. Die Einteilung der Mittel verläuft nach zeitlich abgegrenzten Förderperioden. In der aktuellen Förderungsperiode im Zeitraum von 2007 bis 2013 werden 75 Milliarden Euro an die Mitgliedsstaaten ausgeschüttet. Davon gehen etwa 26 Milliarden an die Bundesrepublik.
Bremen als das kleinste Bundesland erhält 94 Millionen. „Verglichen mit den Förderperioden zuvor ist das nicht viel“, sagt Thorsten Armstroff unbeeindruckt von der hohen Summe. Thorsten Armstroff arbeitet bei der Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales in Bremen. Dort ist er als Referent für den Europäischen Sozialfond in der Verwaltungsbehörde zuständig und weiß, wie die ESF-Mittel in der Hansestadt verteilt werden. Für die Fördermittel des ESF können sich Institutionen und Organisationen aus verschiedenen Bereichen bewerben. „In der Regel sind das die öffentliche Verwaltung, Nichtregierungsorganisationen, Wohlfahrtsverbände und Projekte, die im Bereich Beschäftigung und soziale Eingliederung aktiv sind“, erläutert Armstroff. Damit sich die Träger für die Mittel bewerben können, findet vorab eine öffentliche Ausschreibung statt.
Die derzeitig ausgeschriebenen ESF Mittel sollen im Land Bremen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen und der sozialen Stadtentwicklung zu Gute kommen. Armstroff hält diese Ausschreibung für besonders sinnvoll. „Es handelt sich um Projekte, in denen die Beschäftigten das Stadtbild verschönern, wie zum Beispiel die Erneuerung eines Spielplatzes und das gerade in den Stadtteilen, wo die Langzeitarbeitslosigkeit am Größten ist“.

Anträge für die Förderung dieser Projekte werden zuerst bei der landeseigenen Gesellschaft „Bremer Arbeit GmbH“ eingereicht. Nach sorgfältiger Auswahl, landen die Unterlagen auf dem Schreibtisch von Thorsten Armstroff.

Generell müssen alle EU-Strukturfondsmittel mit nationalen Mitteln ko-finanziert werden, in der Regel mit 50%. Aufgrund der Haushaltssituation von Bund, Ländern und Kommunen, stehen vor allem für den ESF immer weniger eigene Mittel zur Ko-Finanzierung zur Verfügung. Daher sind die Bundesländer seit längerer Zeit dazu übergegangen, die ESF-Mittel mit Mitteln der Bundesagentur für Arbeit zu ko-finanzieren, das bedeutet, dass die staatlichen Transferzahlungen, die Arbeitslose erhalten (Arbeitslosengeld) für die Zeit, die sie an einem ESF-Projekten (Beschäftigung, Qualifizierung) teilnehmen, als Ko-Finanzierung der ESF-Mittel genutzt werden. Nachteil für die Bundesländer: Sie müssen ihre ESF-Programme eng an die Förderpolitik der Bundesagentur für Arbeit koppeln.

Die Verantwortung mit so einem hohen Budget umzugehen, kann manchmal sehr bedrängnisvoll sein, denn das vorhandene Geld muss ausgegeben werden, wie Thorsten Armstroff erzählt. „Verbrauchen wir das Budget nicht, besteht die Gefahr, dass die Europäische Kommission uns unterstellt, es sei kein Bedarf dafür da und deshalb im nächsten Jahr dementsprechend weniger Geld zur Verfügung stellt.“

Daher kommt es nicht vor, dass die Bundesländer es nicht schaffen, das Geld auszugeben.
Doch gerade die europäischen Länder, die durch die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise am stärksten betroffen sind (südosteuropäische Länder) haben große Probleme, die zur Verfügung stehenden EU-Strukturfondsmittel auszugeben, wie Thorsten Armstroff sagt. Gründe hierfür, meint er, wären unter anderem die fehlenden Strukturen (Arbeitsverwaltung, Wirtschaftsfördergesellschaften, Bildungsträger etc.), die man für die Umsetzung benötigt. „Um die Vorgaben zur Umsetzung von EU-Strukturfondsmittel alle einhalten zu können, benötigen neue Mitgliedstaaten oft Jahre der Anpassung“ so Thorsten Armstroff .

Frau Dr. Uzuner zur Zypernfrage

Ein Beitrag von Can, Nasir und Till

Nach wie vor stellt die Zypern-Frage eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einem EU-Beitritt der Türkei dar. Frau Dr. Uzuner glaubt, dass die EU mit der Aufnahme Südzyperns „einen der eklatantesten Fehler“ begangen hat, denn „Zypern sitzt jetzt in der privilegierten Situation immer nein sagen zu können.“ Im Gegensatz zu den Mehrheitsentscheiden in der EU Gesetzgebung ist im Beitrittsprozess Einstimmigkeit erforderlich, jedes Mitgliedsland hat ein Vetorecht.

Dr. Sabine Uzuner bemängelt vor allem, dass die Aufnahme Südzyperns in die EU kurz auf das scheitern des Annan-Plans 2004 erfolgte. Damals wurde sowohl in Nord- als auch in Südzypern ein Referendum über die Wiedervereinigung der Insel abgehalten. Nordzypern stimmte zu, doch in Südzypern lehnte die breite Mehrheit den Entwurf der UN ab. Einen Monat später wird die Republik Zypern, also der Südteil der Insel in die EU aufgenommen. Dr. Uzuner: „Also die wurden im Prinzip belohnt für diese Ablehnung.“

Dr. Sabine Uzuner sagt, sie selbst habe damals große Hoffnungen in den von Kofi Annan initiierten Friedensprozess gehabt. Dieser sah vor, dass die zwei Inselteile weitgehende Autonomie behalten sollten, jedoch mit gemeinsamer Außen-, Verteidigungs-, Wirtschafts- und Währungspolitik.

Entfernt sich die Türkei von der EU?


Am Bosporus weist ein in Stein gemeißelter Mustafa Kemal Atatürk nach Europa. Er ist Sinnbild für eine staatliche Ausrichtung, die bis heute ebenso jedem politischen Sturm trotzte, wie auch der steinerne Mustafa Kemal jedem Unwetter widerstand. Die moderne Türkei des Atatürk, was sinngemäß Vater der Türken heißt, wollte immer nach Europa, das steht außer Frage.
Die EU ihrerseits signalisierte seit je her, dass die Türkei der Staatengemeinschaft beitreten könne, wenn sie denn nur weiter Fortschritte mache, oder später, wenn sie nur ihren Reformkatalog weiter abarbeite.

Doch in jüngster Zeit verändert sich das gewohnte Bild: Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Schröder und Chirac die Türkei noch in Sicherheit wiegen konnten, sie sei auf dem besten Weg. Innerhalb der Euro-Staaten schwindet die Unterstützung für den Beitritt.
Gleichzeitig tritt die Türkei immer souveräner auf, verfolgt zielstrebig eigene Politiken. Demonstriert immer öfter, dass sie Regionalmacht mit Führungsanspruch ist. Die Türkei ist gar nicht mehr richtig an der EU interessiert, so scheint es manchmal.

Darüber wundert sich Frau Dr. Sabiner Uzuner nicht. Früher sei für die Türken alles, was aus Europa kam, gut und fortschrittlich gewesen. Man habe europäische Schrift und viele Gesetze übernommen. Habe die Vielehe abgeschafft und sich europäisiert, so Uzuner. Jetzt habe sich der Standpunkt vieler Türken und auch der türkischen Politik geändert. „Die Haltung der EU und der europäischen Öffentlichkeit und auch der Medien hat dazu beigetragen, dass das ein wenig abgekühlt ist.“


Dr. Uzuner: „Ich finde die Privilegierte Partnerschaft ist eine Herabsetzung (…) und das wird auch in der Türkei eindeutig so empfunden.“

Vor allem die aus türkischer Sicht unfaire Darstellung des Zypern Konflikts und demütigende Zurückweisungen von Seiten einiger EU Mitglieder, so zum Beispiel durch Österreich, Frankreich und Deutschland habe eine Wende herbeigeführt. Vor einigen Jahren seien noch über 60% der türkischen Bevölkerung für einen EU Beitritt gewesen, mittlerweile seien nur noch 44% dafür. „Auch ich muss sagen ich habe mich da ein bisschen geändert (…) und ich denke (…) vielleicht verkraftet man eine starke Türkei nicht.“


Dr. Uzuner: „2030 geht man von 90 Millionen Einwohnern aus. Davor hat Europa Angst.“

In der Türkei leben heute 72 Millionen Menschen, im Jahr 2030 könnte die Bevölkerung auf 90 Millionen angewachsen sein, so Uzuner.

Das hat weit reichende Folgen: Schließlich gibt es seit dem Lissabon-Vertrag innerhalb der EU Mehrheitsentscheide. Das heißt, seit Lissabon richtet sich der politische Einfluss jedes Mitgliedslandes in erster Linie nach seiner Bevölkerungszahl. Demzufolge wäre die Türkei ein durchaus mächtiger EU-Mitgliedsstaat - mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung.


Dr.Uzuner: „Europa hat Angst vor dem Islam“

Europa habe aber auch ein Problem damit, dass die Türkei ein islamisches Land sei. Und dass obwohl der Islam in der Türkei gemäßigt gelebt werde.

Dass der Islam in der Türkei im öffentlichen Leben eine andere, eine kleinere Rolle spielt, als in anderen islamischen Ländern, geht zurück auf die Staatsdoktrin des Mustafa Kemal Atatürk. Sie propagiert einen strengen Laizismus. Also eine Trennung von Staat und Religion. Das ist in keinem anderen mehrheitlich islamischen Land so. Schließlich sagt man fast überall im arabischen Raum „Al-Islam hua din wa daula", was soviel heißt, wie „der Islam ist Staat und Religion in einem“. Doch Mustafa Kemal sah den Islamismus als größte Gefahr für seine türkische Republik.

Seit die AKP zum bestimmenden Faktor in der politischen Landschaft der Türkei geworden ist, tobt ein Machtkampf in der Türkei. Die Regierungspartei AKP, die als gemäßigt islamisch gilt, wurde vom Militär schon lange argwöhnisch beäugt. Man warf Tayip Erdogan, dem türkischen Ministerpräsidenten vor, eine schleichende Islamisierung der Türkei erreichen zu wollen.


Dr. Uzuner: „Aus der Sichtweise vieler Türken ist ein gewisser Einfluss des Militärs nicht unbedingt schlecht. Weil das Militär als Garant für Frieden und Freiheit erscheint.“

Schon zu Beginn von Ministerpräsident Erdogans Legislaturperiode drohten die Generäle, die auf Atatürk eingeschworen sind und sich als Bewahrer seines Erbes sehen, mit Putsch – es wäre nicht der Erste gewesen. Schon vier mal hatte das türkische Militär seit 1960 erfolgreich gegen unliebsame, demokratisch gewählte Regierungen geputscht. Was sich nach Militärdiktatur anhört, wurde von vielen Türken zumindest als nötiges Übel hingenommen, wenn nicht sogar gefeiert. Ein Großteil der Bevölkerung hatte Angst, dass ohne einen starken, hart durchgreifenden, laizistischen Staat, die Türkei in den politischen Unwettern des Nahen Ostens untergehen würde. Dass die Türkei womöglich ein zweiter Iran werden würde.

So blieb die Macht der Generäle lange ungebrochen. Es gab ein bestens organisiertes Netz von kemalistischen Zellen in der Türkei, Zellen die jeweils nicht voneinander wussten. Ergenekon wird dieses Netzwerk genannt, dessen Existenz bis vor kurzem strittig war. Mittlerweile aber scheint klar, dass es wohl zumindest etwas in der Art gegeben hat: Seit 2003 werden wieder und wieder hohe Militärs verhaftet – sie alle sollen Teil des Ergenekon Netzwerkes sein.


Dr. Uzuner: „Die Militärs, die Kemalisten, deren Cousins und Onkels auch in den Gerichten sitzen, das ist die Oberschicht. Und die AKP die jetzt von unten kommt, versucht die zu entmachten.“

Das Militär hat bereits an Einfluss verloren. Der Kemalismus und seine Eliten an Bedeutung. Neben Minirock und engen Jeans ist das Kopftuch wieder fest im Stadtbild integriert. Und selbst die Frau des türkischen Präsidenten Abdullah Gül trägt Kopftuch, nach kemalistischem Verständnis eine Unmöglichkeit an sich.
Die demokratisch gewählte Partei AKP hat es geschafft die alten Strukturen aufzubrechen. Sie hat einen moderaten Islamismus wieder salonfähig gemacht. Nicht mit Gewalt, sondern mit Geduld und Zurückhaltung. Und mit der Unterstützung eines Großteils der einfachen Bevölkerung.

Die Einen würden das, was gerade in der Türkei passiert, eine demokratische Erneuerung nennen, die Anderen ein stilles, langsames zu Grabe tragen des Kemalismus. Der Doktrin die westliche Freiheiten und Demokratie bis vor kurzem hatte beschützen können. Jedenfalls endet die Bevormundung des einfachen Volkes durch die kemalistischen Eliten. Das ist ganz im Sinne der EU, schließlich kann man keinen Staat aufnehmen, der hin und wieder mal Militärdiktatur ist. Aber wenn sich die Türkei von ihrem kemalistischen Erbe emanzipiert, heißt das auch, dass die Europa Frage wieder ein Stück weit offen ist. Schließlich ist man in Ankara oftmals durchaus anderer Ansicht, als in Brüssel. Man hat Gestaltungswillen und auch die Möglichkeit zu gestalten. Deshalb ist die Türkei nicht mehr an der EU Mitgliedschaft interessiert, nicht mehr um jeden Preis: Die EU Mitgliedschaft ist nicht mehr quasi-Staatsdoktrin.

Brüssel 2010

Von Moritz Herrmann

Die Brüsseler Architektur – oder genauer: die Brüsseler Architektur im EU-Viertel – ist ein Geniestreich, weil sie ungeheuer repräsentativ ist. Sollte man meinen. Verglaste Büroriesen, das spiegelt doch Modernität? Auf engstem Raum gestaute Departement und über ganz kurze Wege zu erreichende Organe, beweist das nicht Funktionalität? Und dass sich diese Schaltzentralen der Macht in das Quartier Léopold eingliedern, die kleinen, belgischen Altbauten nicht einfach ausradiert haben, zeugt das nicht von einer, nein der wichtigsten Eigenschaft supranationaler Institutionen, nämlich Integrität? Mitnichten! Denn wer auch immer die Bauten zwischen Berlaymont und Rond Point Schumann konzipiert hat, darf sich vor allem deshalb Genie nennen, weil sein Entwurf – das behaupte ich jetzt einfach mal – vor allem das Empfinden der EU-Bürger repräsentiert. Wo sich die Union modern, funktional und integrativ wähnt, glaubt der Betrachter seine schlimmsten Vorurteile bestätigt: die EU als bürokratischer Moloch, Entscheidungen hinter verschlossenen Türen (oder hier: verspiegelten Fenstern), keine Transparenz, keine Einsicht, keine Volksnähe – europäische Politik aus dem Elfenbeinturm! Kurze Wege, damit der elitäre Klub der Anzugträger und Aktentaschen unter sich bleibt, und schon gar nicht integriert sich der EU-Komplex in das Quartier Léopold, nein – er begräbt doch den pittoresken Charme unter seinen Stahllawinen und reißt hässliche Löcher in die einst schmucke Gegend! Das ist, wie gesagt, eine dreiste Behauptung, aber dabei keine ganz absurde, wie sich zeigt: Noch im Frühjahr 2009 ließ der damals stellvertretende Kommissionspräsident Siim Kallas verlauten, das Brüsseler EU-Viertel werde bald umgestaltet. Man wolle ein „menschlicheres und symbolischeres Flair“, das dem großen „europäischen Projekt“ endlich „Körper und Seele“ geben. Bewohnerfreundlich soll es werden, umweltverträglich, eine gesunde Mischung aus privatem und öffentlichem Raum, Wohnungen, Büros, Läden, effektiv designt. Weil der Ministerpräsident der Hauptstadtregion Brüssel, Charles Picqué, aber zeitgleich von „ikonischen Gebäuden, die zu den höchsten in Brüssel gehören werden“, fabulierte, dürfen Zweifel an der Umgestaltung angemeldet werden. Zweifel, ob das neue Gesicht tatsächlich zu den Füßen passen wird, auf denen die Union ruht.

Brüssel und die schweigende Mehrheit

Ein Beitrag von Can Mansuroglu

Als es mir zum ersten Mal passierte, da war es ohne jede Berechnung. Ich wollte nicht angeben, oder ähnliches. Es war einfach die spontane Antwort auf die Frage 'Und? Was machst Du so?'.
„Ich bin gerade aus Brüssel zurück...Studienreise...Parlament besichtigt und ARD-Studio und ach ja, die Kommission auch. Dort sogar eine Pressekonferenz von Barroso besucht. Ja, genau... der Barroso...“

Staunen bei meinem Gegenüber. Und Ehrfurcht. Und Schweigen. Warum? Mit Brüssel, EU Parlament und Kommission kann er nicht viel anfangen. Kann sich nichts darunter vorstellen, weiß nur, dort werden wichtige Entscheidungen getroffen – irgendwie. Es ist ihm nicht zu verübeln. Viel zu weit weg ist Brüssel von seinen Bürgern und dabei spielt es keine Rolle, ob sie in Brügge oder Budapest leben. Es ist keine geografische Entfernung. Nein, es ist eine gefühlsmäßige: Die meisten Europäer können sich mit der EU so wenig identifizieren, weil sie in dritter Linie kompliziert ist, in zweiter Linie komplex, und (das ist das entscheidende) in erster Linie abstrakt.

Daran liegt es, dass die Menschen interessiert nachfragen, wenn man sagt man sei in London, Paris, oder Madrid gewesen und, dass die Mehrheit schweigt, wenn man erzählt „Ich bin gerade aus Brüssel zurück.“ Sie wissen: In Brüssel ist nichts außer der EU – von der sie nicht wissen was sie ist. Also besser nichts sagen, als hinterher dumm dazustehen.

Jedenfalls, darauf wollte ich eigentlich hinaus, prägte sich mir die Reaktion meines Gegenübers ein. Und etwas später wurde mir klar: Mit Brüssel kann man nicht angeben (hatte ich wie gesagt, sowieso nicht vor), aber die Meisten zum schweigen bringen.

Irgendwann treffe ich einen alten Klassenkameraden. Einen, wie ihn jede Schulklasse hat: Einzelkind. Von Beruf Sohn. Er fängt wieder an, von all seinen neuen Sachen zu erzählen. Dann fragt er, sein Desinteresse nur mäßig verbergend, nach was ich mache. Ich will, dass er aufhört zu reden...

„Ach, ich bin in gerade aus Brüssel zurück.“


Ein Beitrag von Carolin Winterholler

Ohne das Europa-Viertel in Brüssel einmal gesehen zu haben, kann sich kein Mensch vorstellen, dass dort tatsächlich eine neue Regierung entstanden ist. Eine Regierung zum anschauen und anfassen, aber auch eine Regierung, für die das „alte“ Brüssel weichen musste. Die alten Häuser, die dem Regierungsviertel noch nicht zum Opfer fielen, lassen nur erahnen, wie es dort früher aussah. Als uns Tilman Rothermel über einen Dokumentarfilm erzählte, der beschreibt, wie die Brüsseler einst um „ihr“ Viertel, ihre Heimat und ihre Häuser, im jetzigen Regierungsviertel kämpften, und schließlich verloren, kommt zu der Aufregung des Neuen, der Schmerz des Verblichenen hinzu. Doch so ist wohl der Lauf der Welt: Altes muss weichen, um dem Neuen Platz zu machen.


Freitag, 16. Juli 2010

Die Europäische Union – Eine Europäische Kultur?

Ein kommentierter Beitrag von Neslihan Yildiz

Es ist mitten in der Woche, spät in der Nacht. Der Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel ist ungewohnt leer. Eine Maschine wird in dieser Nacht noch landen. Flug 127765 aus Teheran. Von der langen Reise sind alle Ankömmlinge gleichermaßen erschöpft. Bei der Passkontrolle werden die Passagiere aufgefordert, sich in zwei Reihen zu gliedern. Links die Reisenden mit EU-Pässen, rechts alle anderen. „Links nur EU-Bürger“, dröhnt es in die Stille. Niemand rührt sich. Der Flughafen-Beamte stellt sich hinter einen dunkelhäutigen Mann und mahnt erneut, diesmal mit fester Stimme: „Links nur EU-Bürger. Stellen Sie sich bitte in die rechte Reihe.“ Der Mann mit weißem Turban auf dem Kopf und knielangem Leinenhemd, der von dem Beamten nun direkt angesprochen wird, reagiert nicht. „Sprechen Sie deutsch?“ Der blau uniformierte Beamte wird ungeduldig. Die Flughafengäste auch. „Stellen Sie sich doch auf die andere Seite, damit wir weiter können, um Gottes willen“, empört sich ein Mann aus den hinteren Reihen. Er trägt einen schwarzen Anzug, den Aktenkoffer unter dem Arm. Nun meldet sich der Angesprochene zu Wort: „Ich? Wieso denn? Ich bin Engländer“, sagt er mit ruhiger Stimme und hält seinen Ausweis hoch.


1951 heißt es im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die Gründungsstaaten (Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg Niederlande) seien entschlossen, "durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren". Seither sind fast 60 Jahre vergangen. Die Europäische Union besteht mittlerweile aus 27 Mitgliedstaaten und agiert unter dem Schutzmantel des am 1.1.2010 in Kraft getretenen Lissabonner Vertrags. Aus der EKGS wurde die EU.


Doch wie fest ist die Gemeinschaft unter den (europäischen) Völkern 60 Jahre später wirklich? Was sind die Merkmale der heutigen Europäischen Gemeinschaft? Ist es der gemeinsame Markt? Die gemeinsame Rechtsordnung? Sind es gemeinsame Werte? Eine gemeinsame Kultur? Was verbindet Europa? Und vor allem: Was entzweit Europa?


Das heutige Europa verbindet durchaus eine gemeinsame Politik. Wie beispielsweise die Agrar-, Struktur- oder Handelspolitik der Europäischen Gemeinschaften. Auch in außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten (GASP) oder in polizeilichen- und rechtlichen Strafsachen (PJZS) abreitet Europa mal mehr, mal weniger konstruktiv auf gemeinsamen Ebenen. Damit hat Europa eine wirtschaftliche, politische und rechtliche Zusammenarbeit errichtet. Von nun an sollte es darum gehen, diese Zusammenarbeit zu verbessern und auszubauen.


Wenn Anfang der fünfziger Jahre von einer weiteren vertieften Gemeinschaft unter Völkern die Rede war, dann sicher nicht im Sinne der, heute oft diskutierten, Kulturellen Gemeinschaft. Nur zu Recht heißt es in Artikel I der Europäischen Verfassung:


„Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor der Verfassung sowie die nationale Identität der Mitgliedstaaten (…).“


Ein gemeinsames Europa darf nicht mit kultureller und schon gar nicht mit religiöser Konformität einher gehen.

2006 verleiht Papst Benedikt XVI seiner Forderung nach einer stärkeren Anerkennung der christlichen Wurzeln Europas Nachdruck, in dem er die Rückbesinnung auf gemeinsame Werte postuliert. Gemeinsame Werte Europas sind nicht die einer christlich-abendländischen Kultur, meine ich. Gemeinsame Merkmale Europas sind Vielfalt, Akzeptanz und Toleranz unabhängig von der Herkunft und religiösen Zugehörigkeit eines jeden Einzelnen. Diese Werte wünsche ich mir für mein Europa. Diese Werte wünschen sich viele EU-Bürger für ihr Europa. Studien zu Folge steht für die Bürger Europas mehrheitlich ihre nationale, z.T. ihre regionale Identität im Vordergrund. Sie sind besorgt um ihr kulturelles Erbe. Nicht ganz zu unrecht unterstreicht der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan wiederholte Male, dass die EU mit der Aufnahme der Türkei beweisen würde, "dass es nicht wirklich ein christlicher Club ist, sondern ein Ort, an dem sich Kulturen begegnen".


In meiner Vorstellung von Europa gibt es einen neuen Flughafen in Fuhlsbüttel, im schönen Hamburg. An diesem Flughafendem, mitten in der Woche, spät in der Nacht, landen die Passagiere des Flugs 127765 aus Teheran. Unter ihnen befindet sich ein Mann mit dunkler Hautfarbe, weißem Turban auf dem Kopf und knielangem Leinenhemd. Bei der Passkontrolle ordnet er sich ganz selbstverständlich links in die Reihe für Reisende mit EU-Pässen ein. Er wirkt müde aber zufrieden, denn, er ist angekommen, in seinem Europa.