Sonntag, 16. Oktober 2011

Wen interessiert Europa?

Europapolitik aus Sicht der Bürger

Von: S.Gersonde, W. Plasse

Rund 60 Jahre nach Gründung der Europäischen Union umfasst diese 27 Mitgliedsstaaten mit rund 500 Millionen Einwohnern. Am Sitz in Brüssel fallen Entscheidungen, die auch auf Länderebene große Bedeutung tragen: In Form der Wirtschaft, Politik oder Umwelt betrifft die EU demnach uns alle. Wir haben den Redakteur und so genannten „Chef vom Dienst“ der taz Nord zum Gespräch gebeten. Klaus Wolschner stand Rede und Antwort zur Frage: „Wen interessiert denn überhaupt Europa?“

• Zur Person Klaus Wolschner

Klaus Wolschner ist im Jahre 1951 geboren und studierte Physik, Geschichte und Wirtschaft in Heidelberg, Paris und Bremen. Direkt nach dem Studium 1979 begann er seine Karriere bei der taz. Nebenbei unterrichtet er heute als Lehrbeauftragter an der Hochschule Bremen das Seminar „Politik & Medien“. Wolschner selbst behauptet, die taz habe ein starkes Auslandsinteresse, sie sei allerdings europaskeptisch und bediene Themen der Europapolitik nur gelegentlich.

• Ist-Situation

An einer eigens durchgeführten Umfrage konnten wir schon zu Beginn feststellen, dass das Interesse der Bremer Hochschulstudenten in die europäische Politik eher gering ausfällt. Gründe nannten die Befragten direkt mit: Ihnen fehle beispielsweise der Regionalbezug oder die handfesten Fakten aus europapolitischen Themenfeldern. Außerdem könne sich kaum einer mit der EU oder einzelnen Personen identifizieren, da ein klarer Repräsentant fehle. Wolschner ergänzt die Aufzählung der Studierenden mit der langen Laufzeit der Verfahren und den länderspezifischen Traditionen, an denen die Bürger festhalten würden.

An einem Beispiel werden die Begründungen deutlicher: Der Beschluss über die Feinstaub-Grenzwerte und die Einführung der so genannten Umweltzone geschah schon 2007 in Brüssel, allerdings sprach damals in Deutschland keiner davon. Erst als die Regeln im Januar 2009, speziell in Bremen, eingeführt wurden, polarisierte das Thema plötzlich. Dass bis 2015 nun weitere Verschärfungen in Kraft treten sollen, scheint gerade niemand zu wissen. Politik auf EU-Ebene ist also nur dann interessant, wenn sie die Menschen selbst betrifft und klare Fakten liefert. Die Frage „Was bedeutet dieser Entschluss für mich persönlich?“ stelle sich jeder, meint Wolschner. „Menschen sind von Grund auf egoistisch, das ist ganz natürlich“, sagte er in unserem Gespräch. Außerdem spiele Europa an sich auch gar keine Rolle. Das sei eine Strukturveränderung in der Politik, die den Medien nicht gut tut beziehungsweise erst gar nicht für sie gedacht ist. Wolschner selbst findet das schade. Er würde sich mehr Interesse und Bemühungen wünschen.

• Soll-Situation

Um Wolschners Wunsch und dem vieler europäischer Politiker nach mehr Interesse
nachkommen zu können, muss aber viel passieren: „Europa funktioniert so nicht. Die verschiedenen Abgeordneten müssen endlich auf eine gemeinsame politische Welle aufspringen und nicht weiter ihre eigene Politik machen“, schlägt Wolschner vor. Außerdem hält er eine repräsentative Figur für sinnvoll: „Wie die Queen von England.“

• Bemühungen

Als professionelle Meinungserhebung zum Thema gilt die Eurobarometer-Umfrage, die im Auftrag der Generaldirektion „Information, Kommunikation, Kultur, Audiovisuelle Medien“ der Europäischen Kommission durchgeführt wird. Die Umfrage wird getätigt, in dem ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung einen gleichlautenden Fragebogen bekommt. Je EU-Mitgliedsland sind dies circa 1000 Personen, sodass im Jahre 2010 über 30.000 Menschen befragt wurden. Sinn dieser Erhebung ist zum einen, das Bewusstsein der Bürger für Europapolitik zu bestärken und zum anderen, den Verantwortlichen Aufschluss über mögliche, verbesserungswürdige Faktoren zu geben. Der Fokus des Eurobarometers liegt des Weiteren auf der Analyse der Berichterstattung von Seiten der Medien, die sich laut Wolschner schließlich stärker bemühen sollten.
Doch das Ergebnis ist auch hier seiner Meinung nach erschütternd: Einerseits sagen die EU-Bürger laut Barometer, sie fühlen sich unzureichend über EU-politische Themen informiert, antworten aber auf die Frage nach der Berichterstattung der Medien hauptsächlich mit „ausreichend“. Deutlich wird hierbei demnach erneut, dass das Interesse gar nicht erst da zu sein scheint. Der Vertrag von Lissabon, die Europawahlen 2009 und die Maßnahmen gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise, haben bei den Befragten allerdings für Interesse gesorgt. Wolschner meint: „Das ist ein guter Anfang.“

• Und jetzt?

Kommunikation scheint auch auf diesem Gebiet der Schlüssel zu sein. Als positives Beispiel, dem Menschen Europa näher zu bringen, geht Helga Trüpel voran. Regelmäßig hält die Europaabgeordnete der Grünen die Veranstaltungsreihe „Bremen in Europa“ ab. Der Fokus ihrer Arbeit besteht darin, die Verbindungen zwischen Bremen und Europa deutlich zu machen. Damit geht sie auf die Forderung der eingangs befragten Studierenden ein, Europapolitik zu regionalisieren. Und sie geht mit vielen kleinen Bemühungen einen großen Schritt in Richtung eines politikengagierten Landes.

Was geht uns eigentlich Brüssel an?

Von: Von T. Robben, L. Bohlmann und I. Hindenberg

Da ein Bier, dort einen Cocktail oder doch lieber ein Eis? An der Bremer Schlachte gibt es alles – und noch viel mehr. Doch wer hatte eigentlich das Geld, aus der einstigen Betonwüste eine attraktive Flaniermeile zu machen? Ob man´s glaubt oder nicht, die Europäische Union war´s! Aber was hat die EU mit der Schlachte zu tun? Die Antwort ist der ESF, der Europäische Sozialfonds.

Fragt man unsere Mitbürger, was sie über die EU denken, sehen viele vielleicht nur Milchseen und Butterberge. Geld, das dahin fließt, wo es keiner braucht, an Sinnvolles wie die Schlachte denkt erst einmal keiner. Doch gerade solche Projekte, hinter denen man nicht unbedingt das Aushängeschild der EU erwartet, profitieren stark von den Geldern der EU.
ESF – das sind drei Buchstaben, die für den Terminus „Europäischer Sozialfonds“ stehen und die vielen Bürgern einen Geldsegen bescheren können. Wenn man weiß, woher sie kommen, wofür es sie gibt und wie man sie bekommt. Hier eine Erklärung: Bei dem Europäischen Sozialfonds handelt es sich um einen so genannten Strukturfonds. Er ist eines der Instrumente der Europäischen Union, die die Umverteilung des europäischen Vermögens sichern – also das Strukturgefälle zwischen den 27 Mitgliedsstaaten der Union langfristig aufheben sollen. Durch ihn werden Beschäftigungsmaßnahmen, soziale, sowie wirtschaftliche Kohäsion in den Grenzen der Union vorangetrieben. Konkret heißt das, dass verschiedene Projekte auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene finanziert werden, die wiederum die Arbeitsbedingungen, die Beschäftigungsquote und die Integration in den Arbeitsmarkt fördern.
Bremen gehört zur so genannten Ziel 2- Region, die für „Regionale Anpassungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit“ steht und Bremen zu einer „modernen, leistungs- und wettbewerbsfähigen Region Europas“ machen soll.
Beispielsweise hat die Hochschule Bremen für die „Qualitätssicherung in der Lebensmittelwirtschaft mit dem Schwerpunkt Fischwirtschaft“ in dem Zeitraum 2008 – 2010 über 600.000 Euro zugesprochen bekommen.
Doch nicht nur Einrichtungen wie die Hochschule Bremen erhalten Finanzspritzen: Der Schulverein der Grundschule Andernacher Straße im Bremer Stadtteil Ost bietet Sprachkurse für Migrantinnen und Migranten an – und wurde dafür von der EU im Zeitraum 2009-2010 mit 2.700 Euro gefördert.
Theoretisch kann also jeder vom ESF profitieren, praktisch setzt die Bürokratie der EU dem Antragssteller dicke Steine in den Weg, weshalb insbesondere kleinere Vereine die Gelder des ESF nur wenig beanspruchen. Auch wir haben vor intensiver Recherche nichts von dieser Fördermöglichkeit gewusst.
Um den ESF und damit auch die EU, für die Bürger attraktiver und sichtbarer zu machen, heißt es also vor allen Dingen: Bürokratieabbau und Transparenz schaffen. Aber Mühlen mahlen ja bekanntlich langsam.

Türkeibeitritt in die Europäische Union?!

Von: Annika Krause, Janina Patterson, Susi Mannschreck und Marc Stubbemann

Seit nunmehr 60 Jahren versucht die Türkei den Eintritt in den europäischen Raum als anerkanntes Mitglied zu vollziehen. Auch in der aktuellen politischen Diskussion und in den Medien wird der Türkeibeitritt in die Europäische Union diskutiert und die Pro- und Contra-Aspekte aufgezeigt. Nach wie vor zählt der ehemalige osmanische Staat nur als assoziiertes Mitglied im europäischen Raum, eine Vollmitgliedschaft kam seitens der EU noch nicht in Frage.


Die Türkei ist jedoch bereits seit 1949 Mitglied des Europarates. Seine Satzung sieht eine allgemeine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zur Förderung von wirtschaftlichem- und sozialem Fortschritt vor. 1959 bewarb sich die Türkei um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Bewerbung war insofern erfolgreich, dass 1963 zwischen der Türkei und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Assoziierungsabkommen geschlossen wurde. Dieses „Ankara-Abkommen“ regelte ein Darlehen an die Türkei in Höhe von umgerechnet insgesamt 175 Millionen Euro, um den Einstieg in den Wirtschaftsraum zu erleichtern. Dieser Phase sollte dann ein Eintritt in die Europäische Zollunion und dann auch eine spätere türkische Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Gemeinschaft folgen. Doch erst 1992 stärkte sich das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei ein wenig, da sie der Westeuropäischen Union als assoziiertes Mitglied beitraten.

Am 11. Dezember 1999 erhielt die Türkei offiziell dann den Status als anerkannten Beitrittskandidaten der EU. Auf dem Gipfel von Kopenhagen 2002 beschloss die EU über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu entscheiden, sobald die Türkei die politischen Bedingungen der Kopenhagener Kriterien erfülle. Der Kopenhagener Vertrag sieht vier Kriterien für eine mögliche Aufnahme der Türkei vor. Die Politischen Kriterien bestehen aus Demokratie, Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte (insbesondere Minderheiten). Zudem wird eine Struktur in der Judikative verlangt und politische Parteien müssen zugelassen werden. Die wirtschaftlichen EU-Kriterien bestehen aus einer funktionierenden Marktwirtschaft, die in der EU wettbewerbsfähig ist, zudem eine Offenheit gegenüber den ausländischen Märkten. Die EU-Gemeinschaftlichen-Kriterien sehen eine Anerkennung des Binnenmarktes als notwendig und den Beitritt zur Wirtschafts- und Währungsunion.

Das Begehren der Türkei, ein Mitglied der Europäischen Union zu werden, stellt die EU vor eines ihrer größten Probleme. Die heutige türkische Regierung kann erstaunliche Erfolge auf ihrem Weg nach Europa verzeichnen. Somit würde die Zurückweisung der Türkei zu einer langen und ernsten politischen Krise führen. Europa verfolgt das Interesse einer stabilen, demokratischen, prosperierenden Türkei, in der der islamische Glaube und die Moderne miteinander wirken. Doch trotz allen Bemühungen gibt es vor allem bei den politischen Aspekten bis heute weiterhin zahlreiche Argumente, die gegen einen Beitritt in die EU sprechen. Immer noch ist die fehlende Wahrung der Menschenrechte eines der größten Probleme der Türkei. Der in Europa vorhandene Schutz von Minderheiten wird nicht geachtet. Vor Gericht gibt es weder Meinungsfreiheit noch Berufungsrecht. Viel zu wenig wird für die Bekämpfung von Folter und Misshandlungen eingetreten, es gibt kaum zivile Kontrolle des Militärs. Eine komplette Verfassungsänderung wäre nötig, um sich an die europäischen Vorgaben anzupassen. Bevor ein Beitritt in Frage kommt, muss die Türkei beweisen, dass Demokratie und Islam sehr wohl harmonieren können. Denn sollte sie schließlich ein Mitglied der EU werden, werden die Probleme der Türkei zu europäischen Problemen. Doch nicht nur auf dieser Grundlage sprechen sich einige europäische Länder strikt gegen einen Beitritt der Türkei aus. Wichtige Mitgliedsstaaten, wie Frankreich und Deutschland lehnen eine Vollmitgliedschaft ab, auch um ihre eigene Stellung innerhalb Europas zu halten. Denn ausgehend von der hohen Bevölkerungszahl, hätte die Türkei die zweithöchste Stellung im EU Parlament.

Nicht zuletzt in punkto Sicherheit teilen sich die Meinungen innerhalb der europäischen Mitgliedsstaaten. Die Ost-Erweiterung kann einige Vorteile mit sich bringen, da die Türkei sich als Vermittlerin im Nahost-Konflikt durchaus profilieren könnte. Ankara stellt sich als „Dreh- und Angelpunkt“ für viele Kontakte dar. Die Türkei hat gute Beziehungen, sowohl zu Israel, als auch zu den Arabern und Palästinensern. Mit der Einrichtung eines Industriegebietes im Westjordanland zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit in den Palästinensergebieten, hat sie bereits einen großen Beitrag zum Nahost-Friedensprozess geleistet. Dennoch handelt sich die Europäische Union mit der Türkei als neuen Mitgliedsstaat auch zahlreiche Krisenregionen als Nachbarn ein. Diese Nicht-demokratischen und instabilen Staaten könnten eine Gefahr für den Frieden innerhalb Europas darstellen. Vor allem der Iran, der für die Unterstützung des internationalen Terrorismus und den Bau von Atomwaffen bekannt ist, könnte so zur immer größeren Bedrohung werden. Außerdem müsste beispielsweise die EU, als neue Nachbarin des Iraks, zwangsläufig zur Stabilisierung beitragen und würde damit die amerikanische Politik unterstützen. Des weiteren muss allerdings beachtet werden, dass sich die Türkei, bei einer Ablehnung durch die EU, auch den islamischen Ländern zuwenden könnte und somit ebenfalls zu einer Bedrohung für Europa werden könnte.

Nicht nur in der Politik, sondern auch innerhalb der Bevölkerung, kommt immer wieder die Frage auf, in wiefern sich die Türkei in die Europäische Union eingliedern kann. Zurzeit leben 73 Millionen Menschen in der Türkei. Im Vergleich dazu leben allein in Deutschland über 1,6 Millionen türkische Migranten, in der gesamten EU sind es mehr als 13 Millionen (Stand 2007). Die Ost-Erweiterung bietet einerseits eine große Chance für Europa, andererseits stellt sie auch eine große Herausforderung an Europas Solidarität und Integrationskraft dar. Wäre diese Hürde jedoch erst einmal geschafft, wäre es für die türkischstämmige Bevölkerung der EU wesentlich leichter sich zu integrieren. Dennoch haben viele Europäer immer noch das Gefühl, die Türkei gehöre nicht zu Europa und empfinden Fremd- oder Andersartigkeit ihren Mitbürgern gegenüber. Ein wichtiger Faktor dafür sind die unterschiedlichen religiösen Normen. Europa ist durch und durch vom Christentum geprägt, während 99 Prozent aller Türken dem muslimischen Glauben angehören. Die Zahl von 67 Millionen Muslimen übertrifft die Anzahl der europäischen Protestanten.

Die Türkei bemüht sich nun schon seit mehr als vier Jahrzehnten um eine Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft. Viele Türken leben bereits in der dritten oder sogar vierten Generation in Europa und versuchen sich in die westliche Gesellschaft einzugliedern. Dennoch gibt es immer wieder Konflikte, da viele der Osteuropäer sich nicht an die westliche Kultur anpassen wollen. Ob mangelnde Sprachkenntnisse, Zwangsheirat oder gar Ehrenmorde, der Nationalstolz der Türken lässt sogar in der Ferne nicht nach. Alles in allem sind die Fortschritte sowohl auf gesellschaftlicher, als auch auf politischer und kultureller Ebene noch zu gering, um eine einheitliche Zusammenarbeit mit der EU zu garantieren. Ob eine gemeinsame Identität wirklich durch die Bemühungen der Türkei zustande kommen wird, bleibt abzuwarten. Zurzeit ist die westliche Welt in ihren Normen und religiösen Werten immer noch zu weit entfernt von denen, der Türkei. Grundsätze, wie die Ablehnung der Todesstrafe oder Religions- und Meinungsfreiheit, sind in der Europäischen Union schon seit Jahrzehnten fest verankert und müssen auch in der Zukunft ohne Ausnahmen vertreten werden. Wenn die Türkei jedoch weiter an Veränderungen und Fortschritten festhält, gibt es eine realistische Chance doch einmal ein festes Mitglied der Europäischen Union zu werden.