Freitag, 16. Juli 2010

Die Europäische Union – Eine Europäische Kultur?

Ein kommentierter Beitrag von Neslihan Yildiz

Es ist mitten in der Woche, spät in der Nacht. Der Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel ist ungewohnt leer. Eine Maschine wird in dieser Nacht noch landen. Flug 127765 aus Teheran. Von der langen Reise sind alle Ankömmlinge gleichermaßen erschöpft. Bei der Passkontrolle werden die Passagiere aufgefordert, sich in zwei Reihen zu gliedern. Links die Reisenden mit EU-Pässen, rechts alle anderen. „Links nur EU-Bürger“, dröhnt es in die Stille. Niemand rührt sich. Der Flughafen-Beamte stellt sich hinter einen dunkelhäutigen Mann und mahnt erneut, diesmal mit fester Stimme: „Links nur EU-Bürger. Stellen Sie sich bitte in die rechte Reihe.“ Der Mann mit weißem Turban auf dem Kopf und knielangem Leinenhemd, der von dem Beamten nun direkt angesprochen wird, reagiert nicht. „Sprechen Sie deutsch?“ Der blau uniformierte Beamte wird ungeduldig. Die Flughafengäste auch. „Stellen Sie sich doch auf die andere Seite, damit wir weiter können, um Gottes willen“, empört sich ein Mann aus den hinteren Reihen. Er trägt einen schwarzen Anzug, den Aktenkoffer unter dem Arm. Nun meldet sich der Angesprochene zu Wort: „Ich? Wieso denn? Ich bin Engländer“, sagt er mit ruhiger Stimme und hält seinen Ausweis hoch.


1951 heißt es im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die Gründungsstaaten (Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg Niederlande) seien entschlossen, "durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren". Seither sind fast 60 Jahre vergangen. Die Europäische Union besteht mittlerweile aus 27 Mitgliedstaaten und agiert unter dem Schutzmantel des am 1.1.2010 in Kraft getretenen Lissabonner Vertrags. Aus der EKGS wurde die EU.


Doch wie fest ist die Gemeinschaft unter den (europäischen) Völkern 60 Jahre später wirklich? Was sind die Merkmale der heutigen Europäischen Gemeinschaft? Ist es der gemeinsame Markt? Die gemeinsame Rechtsordnung? Sind es gemeinsame Werte? Eine gemeinsame Kultur? Was verbindet Europa? Und vor allem: Was entzweit Europa?


Das heutige Europa verbindet durchaus eine gemeinsame Politik. Wie beispielsweise die Agrar-, Struktur- oder Handelspolitik der Europäischen Gemeinschaften. Auch in außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten (GASP) oder in polizeilichen- und rechtlichen Strafsachen (PJZS) abreitet Europa mal mehr, mal weniger konstruktiv auf gemeinsamen Ebenen. Damit hat Europa eine wirtschaftliche, politische und rechtliche Zusammenarbeit errichtet. Von nun an sollte es darum gehen, diese Zusammenarbeit zu verbessern und auszubauen.


Wenn Anfang der fünfziger Jahre von einer weiteren vertieften Gemeinschaft unter Völkern die Rede war, dann sicher nicht im Sinne der, heute oft diskutierten, Kulturellen Gemeinschaft. Nur zu Recht heißt es in Artikel I der Europäischen Verfassung:


„Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor der Verfassung sowie die nationale Identität der Mitgliedstaaten (…).“


Ein gemeinsames Europa darf nicht mit kultureller und schon gar nicht mit religiöser Konformität einher gehen.

2006 verleiht Papst Benedikt XVI seiner Forderung nach einer stärkeren Anerkennung der christlichen Wurzeln Europas Nachdruck, in dem er die Rückbesinnung auf gemeinsame Werte postuliert. Gemeinsame Werte Europas sind nicht die einer christlich-abendländischen Kultur, meine ich. Gemeinsame Merkmale Europas sind Vielfalt, Akzeptanz und Toleranz unabhängig von der Herkunft und religiösen Zugehörigkeit eines jeden Einzelnen. Diese Werte wünsche ich mir für mein Europa. Diese Werte wünschen sich viele EU-Bürger für ihr Europa. Studien zu Folge steht für die Bürger Europas mehrheitlich ihre nationale, z.T. ihre regionale Identität im Vordergrund. Sie sind besorgt um ihr kulturelles Erbe. Nicht ganz zu unrecht unterstreicht der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan wiederholte Male, dass die EU mit der Aufnahme der Türkei beweisen würde, "dass es nicht wirklich ein christlicher Club ist, sondern ein Ort, an dem sich Kulturen begegnen".


In meiner Vorstellung von Europa gibt es einen neuen Flughafen in Fuhlsbüttel, im schönen Hamburg. An diesem Flughafendem, mitten in der Woche, spät in der Nacht, landen die Passagiere des Flugs 127765 aus Teheran. Unter ihnen befindet sich ein Mann mit dunkler Hautfarbe, weißem Turban auf dem Kopf und knielangem Leinenhemd. Bei der Passkontrolle ordnet er sich ganz selbstverständlich links in die Reihe für Reisende mit EU-Pässen ein. Er wirkt müde aber zufrieden, denn, er ist angekommen, in seinem Europa.