Ein Portrait von Neslihan Yildiz
"Wir waren alle Jugoslawen"
Die spätsommerliche Sonne strahlt gnadenlos vom Himmel. Der vierjährige Amir liegt flach auf dem Rücken auf der Wiese im Garten seiner Großeltern. Vorsichtig streicht er mit seinen kleinen Fingern über die abgeschnittenen Blätter. Während die Sonne seine nackten Füße wärmt, dreht er leicht den Kopf zur Seite. Bereit, die Augen für ein kleines Mittags-schläfchen zu schließen. Da lachen sie ihn plötzlich an, die schwarz-roten Früchte, die am 20 Meter hohen Kirsch- baum hängen. Vorbei ist es mit der Idylle. Blitzschnell flitzt der Lause-bengel zum Baumstamm und guckt gierig hoch in die Krone. In Amirs dunkelbraunen Augen funkelt der Schelm. Er setzt zum Klettern an. Amir braucht beide Hände, um sich festzuhalten und nicht herunterzufallen. Nur einem Schlitzohr von einem Meter Körpergröße kommt es in den Sinn, die Kirschen direkt mit dem Mund zu pflücken. Der klebrige Saft der roten Frucht schmeckt unvergesslich: zuckersüß!
Der heute 39-jährige Amir Omerovic erinnert sich gerne an seine Kindheit in einem Dorf bei Tuzla, in Bosnien und Herzegowina. Nie wird er den überwältigenden Anblick der Kirschbäume und den zucker- süßen Geschmack ihrer Frucht vergessen. Der gebürtige Bremer hat einen Großteil Kindheit und Jugend in einem Vorort von Tuzla, einer Universitätsstadt und Heimstätte vieler bosnischer Künstler verbracht. Bevor Amir Omerovic selbst für ein Kunststudium endgültig nach Bremen zurückkommt, wird er, im September 1990 in die Wehr- pflicht im ehemaligen Jugoslawien einberufen.
Es ist der Militärdienst der letzten Generation der Jugoslawischen Nationalarmee.
In jenen Tagen sind die Menschen in Bosnien noch überzeugt von einem gemeinsamen Jugoslawien. „Ich bin einer von denen, die fest daran glaubten, dass alle Jugoslawen gleich sind. Genauso, wie alle Menschen gleich sind“, erinnert sich Amir. Beim Gedanken an diesen „scheinbaren“ Irrtum überkommt ihn noch heute die blanke Fassungslosigkeit.
Am Tag vor Amirs Eintritt in die Jugoslawische Volksarmee wird in dem kleinen Dorf bei Tuzla groß gefeiert. Familie und Freunde sind stolz auf den damals 19-Jährigen. Es wird gegessen, ordentlich getrunken, viel gelacht und getanzt. „Niemand hat an einen aufkommenden Krieg gedacht“, sagt Amir. „In der JNA (Jugoslovenska Narodna Armija) haben alle Jugoslawen gedient. Egal ob Serbe, Kroate, Bosnier, Slowene oder sonst einer. Wie gesagt, wir waren alle Jugoslawen.“ Der großgewachsene Mann mit den dunklen Augen atmet bei diesen Worten tief durch. In Gedanken schwelgend streicht er sich mit der rechten Hand durch das kinnlange, braune Haar. Vorsichtig führt Amir die Hand weiter, hält sich die Finger vor die Lippen, fast so, als hätte er etwas beinahe Unwirkliches gesagt. „Es gab keine Angst vor einem Krieg im Land selbst“, fügt er entschlossen hinzu. „Wenn, dann hatten wir die Befürchtung, in einen Konflikt zwischen der NATO und dem Ostblock zu geraten. Der Balkan lag schließlich genau dazwischen.“
Die Realität ist eine andere. Weder droht Gefahr seitens der Mitglieder des NATO- Bündnisses noch seitens denen des Warschauer Pakts. Die Gefahr geht aus dem Land selbst aus. Der slowenischen Unabhängigkeitserklärung (1991) folgt ein zehntägiger Unabhängigkeitskrieg auf slowenischem Boden. Dieser Krieg gilt als Beginn des Balkankonflikts. Er fordert 62 Tote, 328 Verwundete und über 4.000 Kriegsgefangene. Monate vor dem eigentlichen Eklat werden Soldaten der Jugoslawischen Volksarmee aus den Kasernen abgezogen und in die umliegenden Berge und Stützpunkte kommandiert. Amir Omerovic ist einer von ihnen.
Ob man im Krieg von „Glück“ sprechen kann, mag dahingestellt sein. Amir Omerovic ist bei Kriegsausbruch als Soldat der Jugoslovenska Narodna Armija (JNA) in Serbien stationiert. Da die Wahrheit im Krieg üblicherweise zuerst stirbt, erhalten Militärdienstleister in Kriegsregionen nur gefilterte Informationen über den Kriegsverlauf. „Wir bekamen nur serbische Zeitungen zu lesen. Wir hatten keine Ahnung, was da draußen in Slowenien passiert“, erinnert sich Amir. „Aber wir merkten, dass etwas nicht stimmt.“ Währenddessen spitzt sich die Lage auch in Kroatien immer weiter zu. Die kroatische Armee kämpft auf kroatischem Boden gegen Soldaten der serbischen Republik (Republik Serbische Krajina, RSK), die inzwischen ein Drittel des kroatischen Staatsgebietes kontrolliert. Die RSK wird militärisch von der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) unterstützt.
Anders lässt es sich wohl wirklich nicht ausdrücken: Amir Omerovic hat Glück. Seine Wehrpflicht endet im August 1991. Noch bevor die kriegerischen Auseinandersetzungen Serbien erreichen.
Weil Amir Omerovic in Deutschland geboren ist und seine Eltern in Bremen leben und arbeiten kann er per Familien-zusammenführung und zwecks eines Studiums noch im selben Monat in die Bundesrepublik ausreisen.
Manchmal ist heute aber unabdingbar auch gestern. „Aus einem einzigen Grund war der Krieg wirklich von Bedeutung für mich“, sagt Amir. „Zehn Jahre meiner Kunst sind durch diesen Krieg entstanden. Vielleicht ist sogar der Künstler Amir durch ihn entstanden.“
Amir Omerovic studiert sechs Jahre Bildhauerei an der Hochschule für Künste in Bremen. 1998 zieht es ihn nicht nur menschlich, sondern auch künstlerisch wieder zurück in seine Heimat. Zwei Semester studiert er an der Akademie der Künste in Sarajewo, im Herzen von Bosnien und Herzegowina.
Heute sieht Amir Omerovic sich selbst als Teil einer Generation, der vieles genommen wurde. Vor allem die eigene Identität. „Ich dachte immer, ich sei Jugoslawe. So stand es in meinem Pass. Dann war ich Bosnier, bis man einen Bosniaken aus mir machte.“ Lediglich ein künstliches Lächeln huscht über seine Lippen. Als aktives Mitglied der Künstlervereinigung in Bosnien und Herzegowina versucht Amir, einen Teil seiner Identität wiederzufinden. Aus dem Wunsch der Identitätsfindung heraus ist auch der Künstlerverein „Ars Bonsae e.V.“ entstanden.
Ars Bosnae wird von Amir Omerovic initiiert und mit der Unterstützung von Künstler-freunden und der bosnisch-herzegowinischen Botschaft im März 2002 in Berlin ins Leben gerufen. Anfangs ist die Künstlervereinigung ein Ort und ein Weg, die gemeinsame Vergangenheit durch Kreativität zu bewältigen und etwas „Neues“ zu schaffen. Schnell wird der Wunsch nach „Normalität“ immer größer. Die Künstlergruppe um Ars Bosnae kann die gemeinsame Vergangenheit nicht abschütteln und ihr künstlerisches Gestalten nicht von ihrer gemeinsamen Geschichte befreien. Aber sie können ihre Kunst in den Vordergrund stellen und so den Grausamkeiten des Krieges die Aufmerksamkeit entziehen, die ihr nicht gebührt. „Mittlerweile ist das Wühlen in der Vergangenheit und die Fragen nach dem Warum bei den meisten von uns überholt“, sagt Amir. „Viele der Mitglieder von Ars Bosnae halten alles außer der Kunst ohnehin für überflüssig.“
Im Juni 2007 feiert Ars Bosnae fünfjähriges Bestehen. Anlässlich dieses Jubiläums leitet Amir Omerovic eine Ausstellung in der Kulturkirche St. Stephani in Bremen mit dem Titel: „Zeig mir Deinen Freund, dann weiß ich, wer du bist.“ Jeder teilnehmende Künstler des Vereins lädt einen geschätzten Künstlerkollegen ein, für dieses Projekt an einem gemeinsamen Stück Kunst zu arbeiten. Amirs Idee, eine künstlerische Mischung verschiedener Nationalitäten und unterschiedlicher Kunst-sparten zu schaffen, geht voll auf. Mit diesem Projekt gelingt es ihm, den Blick auf etwas „großes Ganzes“ zu lenken: Nicht nur der einzelne bosnische Künstler wird in dieser Ausstellung präsentiert, sondern eine ganze Kultur-landschaft von Kunst-schaffenden.
Die Kunst Amirs wäre heute ohne die Erfahrungen des Krieges in seiner Heimat sicherlich eine andere, aber er selbst wäre in jedem Fall dennoch ein Künstler. Die Inspiration für seine schöpferischen Werke führen nicht an Orte wie Srebrenica zurück, an denen grausame Massaker an dem jugoslawischen Volk ausgeübt wurden. Amir Omerovics künstlerische Saat beginnt im Garten seiner Großeltern in Djetinjstvo zu keimen. Unter der Schönheit und Vollkommenheit der großgewachsenen Bäume, beim Anblick der im Sonnenlicht schwarz-rot leuchtenden Kirschen, die an den Ästen lose herunter-hängen. „Ich bin immer noch der Amir, der damals ohne Angst die Bäume hoch- geklettert ist, um Kirschen mit dem Mund zu pflücken.“
Ein Krieg kann einer ganzen Generation vieles nehmen, nicht aber die Erinnerung jedes Einzelnen an etwas Gutem.
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