Mittwoch, 18. August 2010

Brüssel und die schweigende Mehrheit

Ein Beitrag von Can Mansuroglu

Als es mir zum ersten Mal passierte, da war es ohne jede Berechnung. Ich wollte nicht angeben, oder ähnliches. Es war einfach die spontane Antwort auf die Frage 'Und? Was machst Du so?'.
„Ich bin gerade aus Brüssel zurück...Studienreise...Parlament besichtigt und ARD-Studio und ach ja, die Kommission auch. Dort sogar eine Pressekonferenz von Barroso besucht. Ja, genau... der Barroso...“

Staunen bei meinem Gegenüber. Und Ehrfurcht. Und Schweigen. Warum? Mit Brüssel, EU Parlament und Kommission kann er nicht viel anfangen. Kann sich nichts darunter vorstellen, weiß nur, dort werden wichtige Entscheidungen getroffen – irgendwie. Es ist ihm nicht zu verübeln. Viel zu weit weg ist Brüssel von seinen Bürgern und dabei spielt es keine Rolle, ob sie in Brügge oder Budapest leben. Es ist keine geografische Entfernung. Nein, es ist eine gefühlsmäßige: Die meisten Europäer können sich mit der EU so wenig identifizieren, weil sie in dritter Linie kompliziert ist, in zweiter Linie komplex, und (das ist das entscheidende) in erster Linie abstrakt.

Daran liegt es, dass die Menschen interessiert nachfragen, wenn man sagt man sei in London, Paris, oder Madrid gewesen und, dass die Mehrheit schweigt, wenn man erzählt „Ich bin gerade aus Brüssel zurück.“ Sie wissen: In Brüssel ist nichts außer der EU – von der sie nicht wissen was sie ist. Also besser nichts sagen, als hinterher dumm dazustehen.

Jedenfalls, darauf wollte ich eigentlich hinaus, prägte sich mir die Reaktion meines Gegenübers ein. Und etwas später wurde mir klar: Mit Brüssel kann man nicht angeben (hatte ich wie gesagt, sowieso nicht vor), aber die Meisten zum schweigen bringen.

Irgendwann treffe ich einen alten Klassenkameraden. Einen, wie ihn jede Schulklasse hat: Einzelkind. Von Beruf Sohn. Er fängt wieder an, von all seinen neuen Sachen zu erzählen. Dann fragt er, sein Desinteresse nur mäßig verbergend, nach was ich mache. Ich will, dass er aufhört zu reden...

„Ach, ich bin in gerade aus Brüssel zurück.“


Ein Beitrag von Carolin Winterholler

Ohne das Europa-Viertel in Brüssel einmal gesehen zu haben, kann sich kein Mensch vorstellen, dass dort tatsächlich eine neue Regierung entstanden ist. Eine Regierung zum anschauen und anfassen, aber auch eine Regierung, für die das „alte“ Brüssel weichen musste. Die alten Häuser, die dem Regierungsviertel noch nicht zum Opfer fielen, lassen nur erahnen, wie es dort früher aussah. Als uns Tilman Rothermel über einen Dokumentarfilm erzählte, der beschreibt, wie die Brüsseler einst um „ihr“ Viertel, ihre Heimat und ihre Häuser, im jetzigen Regierungsviertel kämpften, und schließlich verloren, kommt zu der Aufregung des Neuen, der Schmerz des Verblichenen hinzu. Doch so ist wohl der Lauf der Welt: Altes muss weichen, um dem Neuen Platz zu machen.


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