Mittwoch, 18. August 2010

Brüssel 2010

Von Moritz Herrmann

Die Brüsseler Architektur – oder genauer: die Brüsseler Architektur im EU-Viertel – ist ein Geniestreich, weil sie ungeheuer repräsentativ ist. Sollte man meinen. Verglaste Büroriesen, das spiegelt doch Modernität? Auf engstem Raum gestaute Departement und über ganz kurze Wege zu erreichende Organe, beweist das nicht Funktionalität? Und dass sich diese Schaltzentralen der Macht in das Quartier Léopold eingliedern, die kleinen, belgischen Altbauten nicht einfach ausradiert haben, zeugt das nicht von einer, nein der wichtigsten Eigenschaft supranationaler Institutionen, nämlich Integrität? Mitnichten! Denn wer auch immer die Bauten zwischen Berlaymont und Rond Point Schumann konzipiert hat, darf sich vor allem deshalb Genie nennen, weil sein Entwurf – das behaupte ich jetzt einfach mal – vor allem das Empfinden der EU-Bürger repräsentiert. Wo sich die Union modern, funktional und integrativ wähnt, glaubt der Betrachter seine schlimmsten Vorurteile bestätigt: die EU als bürokratischer Moloch, Entscheidungen hinter verschlossenen Türen (oder hier: verspiegelten Fenstern), keine Transparenz, keine Einsicht, keine Volksnähe – europäische Politik aus dem Elfenbeinturm! Kurze Wege, damit der elitäre Klub der Anzugträger und Aktentaschen unter sich bleibt, und schon gar nicht integriert sich der EU-Komplex in das Quartier Léopold, nein – er begräbt doch den pittoresken Charme unter seinen Stahllawinen und reißt hässliche Löcher in die einst schmucke Gegend! Das ist, wie gesagt, eine dreiste Behauptung, aber dabei keine ganz absurde, wie sich zeigt: Noch im Frühjahr 2009 ließ der damals stellvertretende Kommissionspräsident Siim Kallas verlauten, das Brüsseler EU-Viertel werde bald umgestaltet. Man wolle ein „menschlicheres und symbolischeres Flair“, das dem großen „europäischen Projekt“ endlich „Körper und Seele“ geben. Bewohnerfreundlich soll es werden, umweltverträglich, eine gesunde Mischung aus privatem und öffentlichem Raum, Wohnungen, Büros, Läden, effektiv designt. Weil der Ministerpräsident der Hauptstadtregion Brüssel, Charles Picqué, aber zeitgleich von „ikonischen Gebäuden, die zu den höchsten in Brüssel gehören werden“, fabulierte, dürfen Zweifel an der Umgestaltung angemeldet werden. Zweifel, ob das neue Gesicht tatsächlich zu den Füßen passen wird, auf denen die Union ruht.

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