Mittwoch, 18. August 2010

Ein europäischer Bürger, ein Europa der Bürger

Zur Europäischen Indentität

Von Necla Süre

Im Reisebüro „Gela Reisen“ hat sich eine Menschenschlange gebildet. Valeria Marinenko, eine in Litauen geborene Russin, steht auch an. „Der nächste, bitte“. Valeria Marinenko nimmt Platz. Wo soll’s denn hingehen, fragt die junge Reiseverkehrskaufrau freundlich. „Nach Moskau“ lächelt die litauische Russin. „Dann bräuchte ich noch Ihren Ausweis, den Sie zur Beantragung des Visums hier lassen müssen“, sagt die junge Dame. Valeria Marinenko kramt aus ihrer Handtasche Ausweis und Portemonnaie hervor, bezahlt ihren Flug und verlässt das Reisebüro. Drei Wochen später kann sie ihren Ausweis und das Visum abholen.
Valeria Marinenko wurde am 29.07.1970 als Kind einer russischen Familie in der Hafenstadt Klaipeda, Litauen geboren. Ihr Großvater, ein Offizier hatte sich aufgrund seines Postens zur Zeiten der Sowjetunion in Litauen niedergelassen. Klaipeda war in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen das Zentrum des Memellandes.
Seit zehn Jahren lebt die litauische Russin in Deutschland. Ihr 18-jähriger Sohn, aus ihrer geschiedenen Ehe lebt weiterhin bei der Familie seines Vaters in Litauen. Während der ersten Jahre in Deutschland hat Valeria Marinenko ihre Familie in Litauen nicht besucht. Doch seit Litauen Mitglied der Europäischen Union (EU) ist und seither besucht sie ihren Sohn regelmäßig. „Seitdem Litauen der EU beigetreten ist, sind die Grenzen gelockert worden, d.h. ich muss nicht mehr wochenlang auf das Visum warten und kann jederzeit einen Flug buchen, ohne mir weitere Umstände machen zu müssen“.
Seit dem 01.Mai.2004 ist Litauen ein Mitgliedstaat der Europäischen Union. Die EU-Erweiterung 2004 war die fünfte und bisher größte Erweiterung der EU überhaupt. Die letzte EU-Erweiterung erfolgte 2007, es traten Rumänien und Bulgarien der EU bei.
Am 9. Mai 1950 stellte der französische Außenminister Robert Schuman erstmals das Konzept vor, das zur Europäischen Union führte.
Im Zuge der europäischen Einigungsbewegung seit Ende des zweiten Weltkrieges unterzeichneten 1951 die Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Montanunion genannt.

1957 wurden mit den Römischen Verträgen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) gegründet. Ziel der EWG war die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Zudem wurden eine gemeinsame Außenhandelspolitik und eine gemeinsame Agrarpolitik beschlossen. Die Organe der drei Gemeinschaften EGKS, EWG und EURATOM wurden 1967 zur Europäischen Gemeinschaft (EG) zusammengelegt. Mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 wurde die Europäische Gemeinschaft zur Europäischen Union. Am 13. Dezember 2007 wurde der Lissaboner Vertrag in Lissabon von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten unterzeichnet und trat am 1. Dezember 2009 In Kraft.
Heute besteht die Europäische Union aus 27 Mitgliedstaaten
Einer der wichtigsten Punkte, die der Vertrag von Lissabon beinhaltet, lautet wie folgt:
„Ein Europa der Rechte und Werte, der Freiheit, Solidarität und Sicherheit, das die Werte der Europäischen Union fördert, die Charta der Grundrechte in das europäische Primärrecht einbindet, neue Instrumente der Solidarität vorsieht und die europäischen Bürger besser schützt“.
Die EU und ihre Entwicklung fußt auf der Idee ein politisches und wirtschaftliches gemeinsames Europa zu schaffen.
Es entstand aber nicht nur die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, sondern die Gemeinschaft zog eine gewachsene Vielfalt an Kulturen, Mentalitäten und Sprachen nach sich. Es soll aus den vielen verschiedenen religiösen, philosophischen, politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Strömungen eine gemeinsame europäische Identität entstehen.
Valeria Marinenko lebt heute im Bremer Stadtteil Neustadt. Hier trifft man auf eine Vielfalt an Nationalitäten, Mentalitäten, Religionen etc., die diese Gemeinschaft mit sich bringt. Die sich heute als Europäerin betrachtende 40-jährige mit litauisch-russischem Migrationshintergrund fühlt sich in Deutschland, vor allem in Bremen wohl. „Ich bin in Litauen als Russin geboren, also war ich und wurde ich dort immer als Ausländerin betrachtet und benachteiligt. Wenn ich nach Russland flog, war ich auch immer Ausländerin, wegen meines litauischen Passes. In Deutschland aber bekomme ich mit meinem litauischen Pass nicht das Gefühl, eine Ausländerin zu sein. Ich wurde weder in Litauen noch in Russland akzeptiert. Aber hier, hier gibt es viele Ausländer. Hier fühle ich mich wohl. Hier fühle ich mich und bin ich eine Europäerin“.
Valeria Marinenko fühlt sich also als europäische Bürgerin. Ein Europa der Bürger, eine Bürgerin in Europa. Neben dem Entstehen einer gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Identität, wird auch die Vielfalt an Kulturen, Mentalitäten und Sprachen akzeptiert und toleriert, auch wenn das im Einzelnen nicht immer der Fall ist.
Es darf nicht sein, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Religion auf Ausgrenzung stoßen, was der Charta der Grundrechte widersprechen würde. Die grundsätzliche Umsetzung und Ausformung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit müssen weiterhin im Zentrum der Gestaltung einer Europäischen Union stehen. Schon allein die Lockerung der Grenzen zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten zeigt ein Bild oder vermittelt den EU-Bürgern das Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Für Valeria Marinenko geht es bald in Richtung Moskau, um ihre Familie dort zu besuchen, doch da Russland kein Mitgliedsstaat ist, wird das Visum noch einige Wochen auf sich warten lassen.

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